Theaterhaus Stuttgart: Zwei Ballett-Uraufführungen von Frauen, zwei von Männern choreografiert, jedoch von großen Choreografinnen inspiriert. Das Verhältnis steht also 4 Frauen : 2 Männern.
- Helena Waldmann lässt die Pferde tanzen → We love horses
- Virginie Brunelle thematisiert Beziehungsprobleme nach dem Rhythmus des Herzschlags → Beating
- Marco Goecke zeigt die Qual eines verklemmten Mannes vor einer Beziehung, die noch in den Startlöchern wartet → Infant Spirit
- Eric Gauthier und Andonis Foniadakis stellen die Tänzer unter Hochspannung → Electric Life
We love horses: Getanzte Sozialkritik für UmdieEckeDenker.
„Wir lieben Pferde“ betitelt die Tanzregisseurin Helena Waldmann ihre originelle Sozialkritik. Wir lieben Dressur, wäre der treffendere Titel. In diesem Stück geht es um Abrichtung, mit Peitsche und allem pipapo.
Ausgestattet wie Zirkuspferde strecken die Tänzer ihre umgeschnallten prallen Hinterbacken gern dem Publikum entgegen. Den Kopf ziert eine lange Fasanenfeder, die bei jeder Bewegung zittert. Sie galoppieren auf der Stelle, dass die Gesäßhälften nur so wackeln.
Dazwischen kommen einige Runden Dressur. Pferde preschen auf Befehl vor und zurück, drehen sich eifrig um die eigene Achse, sogar mit einem oben stehenden akrobatischen Reiter. In der Halbzeit wird gewechselt. Die Pferde werden zu Reitern und befehlen die einzelnen Kunststücke. Ross und Reiter werden brutal korrigiert vom Kontrollpferd, das mit einem langen Stock die Haltung reguliert. Die Peitsche des Oberpferdes schwebt über allem.
Helena Waldmann betrachtet es als Gleichnis für unser Bestreben, sich sämtlichen Gesetzen zu unterwerfen. Wir lieben es, uns von anderen herumkommandieren zu lassen. Wir lieben es, andere an die Kandare zu nehmen. Wir lehnen uns nicht gegen die Peitsche auf, die uns zu weiteren Taten anspornt. Getanztes politisches Statement zum Thema Verordnungen und Gesetze.
Beating: Virginie Brunelle thematisiert Beziehungsprobleme, getanzt nach dem Rhythmus des Herzschlags.
Einseitige Kontaktaufnahme über die Bühnenbreite. Einer macht sich bemerkbar, der andere ignoriert ihn, obwohl er lacht und lockt. Er schlägt Purzelbäume, zeigt ein Gorilla-ähnliches Imponiergehabe, fuchtelt mit den Armen, dreht sich wie wild, umarmt mehrmals seinen Angebeteten und rutscht jedesmal erschöpft auf den Boden. Der andere scheint ihn nicht zu bemerken.
Zwei Menschen nähern sich einander. Frauen schmeißen sich an Männer, Männer schmeißen sich an Frauen, Paare kommen zusammen und trennen sich abrupt, dass nur noch fliegende Beine zu sehen sind. Ein Annäherungsversuch folgt dem anderen. Sie kommen und trennen sich im Rhythmus des Herzschlags.
Infant Spirit: Solostück von Marco Goecke, inspiriert von Pina Bausch.
Verzweiflung bis Selbstzweifel sind die großen Themen der legendären Choreografin Pina Bausch. Marco Goecke schickt einen übernervösen Tänzer auf die Bühne, der sich in Goecke-Manier selbst unter Druck setzt. Er zittert an den Fingern, an den Armen und Beinen. Er umarmt sich und tanzt wirbelnd über die Bühne. Fast am Schluss lässt er die Augen sprechen, dass man Angst bekommt, das Weiße fällt heraus. Im letzten Takt wird seine Nervosität aufgelöst. Er holt eine Blume heraus und steckt sie sich ans Revers – glückselig lächelnd. Es ist also nichts weiter als ein ganz normales Verliebtsein. Er wartet auf das erste Rendezvous und spielt sämtliche Möglichkeiten durch – von inniger Umarmung bis zum Abgewiesen werden.
Electric Life – die mit den Leuchtstangen tanzen.
Überlaute elektronische Musik mit ständig unter Strom stehenden Tänzern widmen Eric Gauthier und Andonis Foniadakis der kanadischen Tänzerin Louise Lecavalier.
Bis heute wirkt der Eindruck nach, den sie bei dem jungen Ballettschüler Eric Gauthier hinterlassen hat. Louise Lecavalier revolutionierte den Tanz, statt elegant auf Spitzen, begeistert sie mit kräftigen Sprüngen. Besonders hat dem jungen Ballettschüler gefallen, dass sie Männer stemmen kann. Sie dreht sich nicht senkrecht, sondern waagerecht.
Der Tanz auf der Theaterhaus-Bühne passt zum Beat. Elektrisiertes Leben – wild, aufgestachelt, mit fliegenden Haaren, ekstatisch. Abgehackte Bewegungen, laute Musik, Wirbel auf der Bühne.
Sie tanzen mit den Leuchtstangen, bilden Formationen. Gitter lösen sich zu Sternen auf. Wenn die Leuchtstangen flackern, zittern die Tänzer. Discotanz in Reinkultur. Discotanz, von dem normale Discobesucher nur träumen.
Beat in voller Lautstärke bestimmt den akustischen Teil das Abends.
Für Beat-Rock-oder-wie-immer-es-heißen-mag-Banausen klingt jedes Musikstück gleich – nämlich geräuschvoll. Wer Ballett liebt, aber nicht die wummernden Bässe, hat mit Ohrenschützern mehr von der exzellenten Aufführung.
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