Das am 24.Februar 2024 zum 100.sten Geburtstag von Selma Merbaum angekündigte Konzert im historischen „Salmen“ in Offenburg entwickelt bei näherer Betrachtung eine Vielzahl von bedeutungsvollen Beziehungen, sowohl in die Vergangenheit als auch zur Gegenwart. So ist zum Beispiel der Konzerttermin der zweite Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine, der Veranstaltungsort die Wiege der Demokratiebewegung in Baden (1847), auch war er in seiner weiteren Geschichte lange Jahre eine Synagoge.
offenburger ensemble
Gerhard Möhringer, Spiritus Rector des offenburger ensembles, moderiert angenehm sachlich, unaufgeregt durch das Programm und beschränkt sich dabei auf wichtige historische Fakten. Weitere Ausschmückungen wären auch nicht angebracht, die knappen biografischen Anmerkungen sind so dermaßen dramatisch, daß einem beim Zuhören mehrmals der Atem stockt.
Ursula Mamlok
Den Anfang macht eine kurze, vierteilige Komposition für Klarinette und Klavier der jüdischstämmigen Komponistin Ursula Mamlock (1923-2016) mit dem Titel „Rückblick“. Mamlock ist in Berlin geboren, emigriert nach der Reichspogromnacht 1938 nach Südamerika, später lebt sie in den USA. Nach dem Tod ihres Mannes 1996 kehrt sie nach Berlin zurück in ihre „Geburtsstadt, nicht in meine Heimat. Meine Heimat ist die Musik“.
Ursula Mamlok: „Rückblick“
Das Stück, komponiert 2002, trägt die Satzüberschriften „Hurried“, „Elegy calm“, „With Energy“ sowie „Lament Mournful“. Ihre in der erweiterten Tonalität angesiedelte Musik beschreibt programmatisch die Erinnerung an die Reichspogromnacht wie Angst, lähmendes Entsetzen, Wut sowie Resignation. Es scheint, dass sie die Klarinette bewusst einsetzt, um Klezmer-Assoziationen zu erzeugen. Markus Raus (Klarinette) und Uschi Gross schaffen gleich zu Beginn eine dichte Atmosphäre, wobei der Klarinettist keine Extreme scheut, um diese hochexpressive Musik plastisch darzustellen.
Xaver Paul Thoma: „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“ (1984/1986)
Im Zentrum stehen natürlich die vertonten Merbaum-Texte des aus Haslach im Kinzigtal stammenden Xaver Paul Thoma. Hier ereignet sich etwas ganz Besonderes: Ursula Bengel, die vor jedem der 7 Lieder „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“ den Text rezitiert, spricht ihn nicht nur, sie nutzt ihre schauspielerische Kompetenz für eine Performance, die uns die Persönlichkeit dieser blutjungen Dichterin (sie wurde nur 18 Jahre alt) verlebendigt.
Mit einfühlsamer Stimme und sparsamen Gesten agiert sie einmal verträumt, ein anderes Mal verzückt, aber auch traurig. Hilde Domin schreibt über die Gedichte: “Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest, so rein, so hell und so bedroht“. Und dann die musikalische Umsetzung! Den gerade erlebten Text im Kopf (und im Herzen) lauscht man der Musik, die heftig, erschütternd, aber auch lautmalerisch und zart ist und kann sich nach dieser Vorbereitung ganz darauf einlassen. Und sie geht unter die Haut! Svea Schildknecht (Sopran) singt mit traumhafter Sicherheit und großem Ausdruck, Elmar Schrammel am Flügel lässt die Architektur der Musik plastisch erfahrbar werden, indem er den großen Dynamikumfang restlos auslotet.
Eines der Lieder mit dem Titel „Spürst Du es nicht“ hat Xaver Paul Thoma in den 1980er Jahren (er ist Jahrgang 1953) ein zweites Mal vertont, unabsichtlich im Abstand von etwa zwei Jahren. Man erhascht dadurch einen seltenen Blick in seine „Komponistenwerkstatt“ und resümiert, er kann auch mit anderen Worten (Tönen) inhaltlich dasselbe sagen…
Das renommierte Offenburger Streichtrio mit Frank Schilli, Violine, Rolf Schilli, Viola und Martin Merker, Violoncello umrahmt Merbaum/Thoma mit Werken von Hans Krasa (1899-1944) sowie Gideon Klein (1919-1945). Wie an den Lebensdaten unschwer zu erkennen, starben beide (jüdische) Komponisten im KZ.
Hans Krasa
Krasa, in Prag geboren, sprach deutsch und studierte bei Alexander von Zemlinsky an der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Prag. Nach Studienaufenthalten in Berlin und in Frankreich bei Albert Roussel arbeitete er als Korrepetitor am Deutschen Theater in Prag. Hauptsächlich bekannt wurde er mit seiner Oper „Verlobung im Traum“, die 1933 in Prag unter der Leitung von George Szell uraufgeführt wurde. 1938 schrieb er, zusammen mit dem Librettisten Adolf Hoffmeister die Kinderoper „Brundibar“, die, nachdem er 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert worden war, etwa 55 Mal dort gespielt wurde.
Hans Krasa: „Tanz“ für Streichtrio
Der „Tanz“ für Streichtrio, der in Offenburg erklingt, eines seiner letzten Werke, 1943 in Theresienstadt komponiert ist Musik eines „Wissenden“. Er wusste, dass er dieses Ghetto nicht überleben würde.
Das kollagenhafte, impressionistische Stück, das auch tschechische Folklore aufscheinen lässt, ist weder bitter noch wehleidig. Es ist virtuos komponiert und erfüllt die Absicht seines Schöpfers, in seiner Musik zu „überleben“. An die Interpreten stellt solch eine Musik mehrfache Anforderungen. Sie muss natürlich von der Faktur her professionell realisiert sein. Darüber hinaus fordert sie aber eine „informierte“ Interpretation, die beim Zuhörer ankommt. Und diese scheint man zu spüren, wenn sich die Musiker des Offenburger Streichtrios dieser Musik annehmen.
Gideon Klein
Ebenso gelingt den drei Herren die Darstellung des dreisätzigen Streichtrios von Gideon Klein (1919 – 1945).
20 Jahre jünger als Hans Krasa, hatte er wesentlich weniger Zeit und Möglichkeiten, sich als begabter Pianist, der er war, sowie als Komponist zu entfalten. Sowohl sein Studium der Musikwissenschaft als auch der Komposition bei Alois Haba musste er 1940 abbrechen. Ebenso wurde ihm die Annahme eines Studienplatzes an der Royal Academy of Music in London verwehrt. Eine Zeitlang trat er unter dem Pseudonym Karel Vranek auf. 1941 wurde er in das KZ Theresienstadt deportiert, wo er u.a. auf die Komponisten Hans Krasa, Victor Ullmann und Pavel Haas traf.
Das Streichtrio von 1944 ist seine letzte Komposition. 9 Tage nach dessen Uraufführung wurde er nach Auschwitz deportiert.
Gideon Klein: „Streichtrio“
Ähnlich wie bei Krasa wird die Musik nicht von resignativer Stimmung dominiert. Im Gegenteil: Der erste Satz springt einen geradezu an mit seiner überschäumenden Quirligkeit und Kraft. Der zweite Satz, ein mährisches Wiegenlied mit sieben Variationen ist das Herzstück der Komposition.
Die Vielfalt an Gestalt und Stimmung der Variationen ist ganz große Musik und berührt stark. Spätestens hier beginnt man zu ahnen, was der Musikwelt durch den frühen Tod dieses begnadeten Komponisten für immer vorenthalten bleibt. Der dritte Satz ist groteske rhythmisch vertrackte hochvirtuose Musik, die mehrmals das Klangbild eines Streichtrios zu sprengen scheint. Einerseits kongenial für diese Besetzung geschrieben, könnte man es sich auch für ein größeres, gemischtes Ensemble vorstellen.
Samstag, 24. Februar 2024, 17 Uhr
Salmen Offenburg
Konzert zum 100. Geburtstag von Selma Merbaum (1924-1942)
mit Musik von Ursula Mamlok, Hans Krasa, Gideon Klein und Xaver Paul Thoma
Die zahlreichen ZuhörerInnen applaudieren stark und verlassen den Saal nur ganz zögerlich, sich austauschend und dabei spürend, eine wertvolle kollektive Erfahrung gemacht zu haben. Dieses außergewöhnlich intensive und reiche Konzertprogramm könnte man sich auch in Kammermusikzyklen europäischer Metropolen vorstellen. Umso wertvoller, diese Schätze in der beschaulichen badischen Provinz erleben zu dürfen.
Offenburg kann stolz darauf sein, solche Künstler in seinen Reihen zu haben, die den Namen Ihrer Stadt in die Musikwelt hinaustragen.
Über den Autor
Wolfgang Wahl, Jahrgang 1948, ist ein im Ruhestand lebender Geiger, Bratscher und Geigenbauer.
Er war 40 Jahre Mitglied der 1. Geigengruppe des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Als Bratscher spielte er in Ensembles wie dem Ensemble 13, wo er viel zeitgenössische Musik (ur-)aufgeführt hat. Im Barockensemble „Parnassi musici“ brachte er seine beiden Instrumente auch in historischer Version zum Erklingen.
Kammermusikspiel war und ist ihm wichtig. Er beschäftigt sich weiterhin aktiv mit Musik, coacht gerne junge MusikerInnen oder schreibt auf, wie sich seine Arbeitsweise im Alter verändert.
Als gelernter Geigenbauer hat er eine weitere Perspektive auf Streichinstrumente und steht in regem Austausch mit jüngeren neubautreibenden Geigenbauern.
In den letzten Jahren erprobt er sich zudem als Moderator von Konzerten und schreibt gelegentlich für Fachmagazine.
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