Noch ein Zeitreisender, könnte man entsetzt ausrufen. Sten Nadolny, der Entdecker der Langsamkeit, blickt in diesem autobiographisch gefärbten Roman zurück auf seine eigene Jugend und taucht sogar in das Jahr 1957 hinein.
Der 68-jährige Wilhelm Weitling – Richter a. D. – hält sich gern am Chiemsee auf, dem Ort seiner Jugend. Eines Tages sticht er mit einer Plätte (die Chiemgauer Mundart-Bezeichnung für Boot) bei schlechtem Wetter in See, genau wie vor einem halben Jahrhundert. Er kommt tatsächlich wieder in Seenot. Als er gerettet wird und zu sich kommt, findet er sich als Geist neben seinem Jugend-Ich Willy wieder. Er sieht alles mit Willys Augen, kann aber nicht ins Geschehen eingreifen, um selbst eine Wendung zu erzwingen.
Keiner bemerkt Wilhelm – fast keiner.
Ein Betrunkener, den er empört beschimpft, versteht ihn und schimpft zurück. Ebenso versteht ihn sein dementer Großvater, zu dem er immer ein gutes Verhältnis hatte. Wilhelm Weitling kann sich nur von seinem Jugend-Ich lösen, wenn es schläft oder in Gedanke woanders ist. Sobald Willy aufwacht, flutscht Wilhelm zurück an seine Seite.
Über ein Jahr dauert die Zeitreise.
Der Lümmel Willy wird dem Richter Wilhelm immer unsympathischer. Legt er doch mit seiner Unbedachtheit die Grundsteine für die Leiden, die Wilhelm mit seiner angeschlagenen Gesundheit immer noch ausbaden muss. Außerdem verliebt er sich in die falsche Frau. Statt die reizende, junge Lehrerin anzuhimmeln, schwärmt Willy für die aufgebrezelte Schwarzhaarige in seiner Klasse. Zur Wiedergutmachung haucht Wilhelm in einem Augenblick, in dem Willy weggetreten ist, der Lehrerin einen Kuss hinter das Ohr. Von keinem bemerkt!
Vieles läuft anders, als Wilhelm es in Erinnerung hat.
Die Schlüsselszenen, die seine private, familiäre und berufliche Zukunft bestimmen, ereignen sich ganz anders. Nicht sein Vater erreicht einen plötzlichen Erfolg als Schriftsteller, sondern seine Mutter. Das dreht das Selbstbewusstsein beider Eltern um. Ebenso beginnt er kein Jurastudium, sondern befasst sich mit Geschichte. Sein Lebenslauf driftet so mit seiner Vergangenheit auseinander, so wie er sie in Erinnerung hat. Wilhelm fürchtet sich vor dem „Aufwachen“. Und tatsächlich verlief sein Leben ganz anders, bloß er weiß nicht wie. In seinem jetzigen Beruf sind seine Kenntnisse als Richter ohne Bedeutung.
Sten Nadolny beschreibt alles breit und genüsslich.
Wie so oft in diesen Alter stellt sich die Frage: „Was wäre, wenn ich zu dem oder einem anderen Zeitpunkt anders gehandelt hätte; wenn ich einen wichtigen Termin versäumt oder eine andere Antwort auf eine Schlüsselfrage gegeben hätte?“ Wie es sich für einen fantasiebegabten Schriftsteller gehört, hält er nicht nur eine Antwort bereit, sondern mehrere.
Weitlings Sommerfrische: Roman von Sten Nadolny | Verlag: Piper (14. Mai 2012) | EUR 16,99
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