Time to Act: Schon immer fragten sich Theaterliebhaber, wie es Schauspieler schaffen, ihre Rolle zwei Stunden durchzuhalten, und zwar glaubhaft. Sie schlüpfen in eine Person, verkörpern sie im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sprechen genau wie die Person, haben deren Gesichtsausdruck und Körpersprache drauf, fallen nicht aus der Rolle.
Wie versetzen sich Schauspielerinnen in ihre Figur?

Das Publikum verabscheut die gerissene Schurkin, der es nicht in der Realität begegnen möchte. Am nächsten Abend sehen Theater-Enthusiasten dieselbe Schauspielerin als betrogene Ehefrau, die überhaupt nichts merkt, obwohl sämtliche Zuschauer es schon längst wissen. Wie lebt sie so glaubhaft als Naive, als Hinterhältige, als hochnäsige Adlige, als Kleinkriminelle, als skrupellose Chefin, als aufopfernde Mutter oder Tochter?
Time to Act – ½ Stunde vor dem Auftritt
Meist beginnt es mit dem Aufwärmen. Das kann Dehnen und Strecken sein, manche schauen im Spiegel in ihre kommende Persönlichkeit oder lockern ihre Gesichtsmuskeln mit Fratzen schneiden – Lachen inklusive. Ein gemeinsamer Handstand im Theaterflur stärkt den Teamgeist. Alle stecken schon in ihren Kostümen und sind dementsprechend geschminkt. Na ja, ein paar Lockenwickler bleiben bis zum Schluss.
Time to Act – 15 Minuten vor dem Auftritt.
Jetzt werden die Perücken noch einmal zurecht gerückt, die Haare toupiert, der letzte Schmuck angelegt. Im Spiegel wird der Gesichtsausdruck überprüft; bestimmte Passagen noch einmal gesprochen. Sich lasziv auf dem Sofa zu Rekeln will auch geübt sein – so etwas machen selbst Schauspielerinnen nicht alle Tage.
In den Gemeinschaftsgarderoben sitzen die Akteure in langen Reihen vor der Spiegelwand – jede mit ihrem Mienenspiel für sich und trotzdem gemeinsam.
Der Spiegel ist der Mittelpunkt aller Schauspielgarderoben.
Der Garderobenspielge hängt icht nur da, um sich selbst zu kontrollieren, sondern auch, um den späteren Nutzern ein Vermächtnis zu hinterlassen. Fotos, Plakate, Kinderbilder, Autogrammkarten – Hauptsache, der Blick bleibt frei.
Time to Act – 5 Minuten vor dem Auftritt.
Jetzt wird’s ernst. Die Rolle muss sitzen. Hexen bekommen den starren Blick, strebsame Charaktere werfen den Kopf hoch und stellen sich gerade hin; der Geizige verkrampft die Hände zu Krallen. Einen Umkleideraum teilen sich zwei befreundete Schauspieler, die in die Rollen der beiden Landstreicher von „Warten auf Godot“ geschlüpft sind. In Körperhaltung und Minenspiel könnten sie direkt von der Landstraße gekommen sein.
Lady Windermere dagegen schaut die Betrachterin so fordernd in die Augen, die Hand auf den Spazierstock gestützt, in voller Ausgeh-Gewandung mit lila Pelerine und einem Hut, auf dem ein Paradiesvogel gerade seine Federn ausschüttet. Herrisch.
Time To Act – Vorhang hoch
Ein Quartett umarmt sich kurz vor dem Gang auf die Bühne und wünscht sich Glück. Manche sitzen die letzten Sekunden vor dem Auftritt auf der Treppe, lehnen wie festgenagelt an der Wand oder lugen durch die halb geöffnete Bühnentür – wohl wissend, dass es von hier keine zurück gibt in die beschützende Garderobe. Es bleibt der Blick auf die Bühne, um ja im richtigen Moment ins Geschehen einzugreifen.
Time to Act – ein Buch für Theaterfans
Simon Annand fotografierte diese Reise der Mimen auf dem Weg in ihre Charakterrolle. Im Theater ist es anders als beim Film, in dem jeweils nur eine Szene gedreht wird, manchmal sogar mehrere Male hintereinander. Dabei sind es keine heimlichen Fotos oder zufälligen Schnappschüsse, sondern Bilder von Fototerminen. Die Künstler wünschten, dass der Prozess der Verwandlung sichtbar wird. Ein liebenswertes, wenngleich intimes Buch für alle Liebhaber des quicklebendigen Schauspiels, die sich im Theater verzaubern lassen.
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Time to Act von Simon Annand (Autor)
Verlag Salz und Silber
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
ISBN-13 : 978-3982020709
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